Am 10. Juli wir im Rat der Stadt Soest die Ausrufung des Klimanotstandes für unsere Stadt entschieden. Dr Udo Engelhard – Meeresbiologe, Mitglied bei ‘Scientist-for-Future’ und Gründer des Klimatreffs Soest wendet sich eindringlich mit einem offenen Brief an alle Fraktionen im Soester Rat:
Der Klimanotstand ist schon in Soest angekommen! Sie auch?
Ein ‘offener Brief’ an die Damen und Herren aller Fraktionen im Rat der Stadt Soest.
Sehr geehrte Mitglieder des Rats,
Am nächsten Mittwoch wird eine zukunftsweisende Beschlussvorlage vor Ihnen auf dem Tisch liegen – ein Antrag auf Ausrufung des ‘Klimanotstands’ für die Stadt Soest. Wie genau diese Vorlage inhaltlich aussehen wird, das wissen Sie und auch die Bürgerschaft heute noch nicht. Die erste Diskussionsrunde im Umweltausschuss der Stadt am gestrigen Abend endete mit vier verschiedenen Vorlagen zur Auswahl – dem Bürgerantrag zur Klimanotstandserklärung, einem Vorschlag des Bürgermeisters und zweier weiterer Alternativen von den Fraktionen der SPD und der Grünen.
Frühere Widerstände gegen die Nutzung des Teil-Begriffs ‘Notstand’ sind jetzt zum Glück aus dem Weg geräumt – schließlich beschwert sich ja auch niemand darüber wenn ein Bundesgesundsheitsminister vom ‘Pflegenotstand’ oder von einem ‘Ärztenotstand’ auf dem Land redet.
Alle vier nun existierenden Vorlagen erkennen an, dass eine offizielle Erklärung des Klimanotstands unter den schon jetzt herschenden klimatischen Bedingungen und Trends absolut berechtigt und angebracht ist. Die Stadt Soest wird mit ihrer Erklärung nunmehr Teil eines weltweiten Prozesses in dem ganze Länder (z.B. Großbritanien, Frankreich, Irland, Kanada), Regionen (z.B. Katalonien, Vorarlberg, Kanton Zürich), und Städte (z.b. Düsseldorf, Sydney, New York, >1000 weltweit) öffentlich erklären, dass sie die massiven, globalen Veränderungen des Klimas
erkennen und fundamental ernst nehmen. Allerdings ist eine Klimanotstandserklärung faktisch nicht mehr als ein Ankommen in der neuen, bedrohlicher werdenden Klimarealität!
Apropos, Klimarealität – als Wissenschaftler weiß ich genau wie vorsichtig und konservativ unsere Branche arbeitet, ja arbeiten muss, denn wir wollen ja keine unnötige Aufregung erzeugen. Bevor die Wissenschaft neue Prognosen macht und neue Trends beschreibt, muss sie sich sehr, sehr sicher sein, dass sie eine ‘echte’ Realität beschreibt. Seit über 30 Jahren warnt die Klimaforschung bereits eindringlich vor den Folgen der fortschreitenden Verschmutzung unserer Atmosphäre mit klimaschädlichen Gasen wie Kohlendioxid, Methan and Distickstoffoxid. Allen Warnungen zum Trotz haben wir mit unseren Aktivitäten die Konzentrationen dieser Gase auf neue Rekordhöchstwerte hochgeschraubt.
Für viele Jahre lagen die Werte für diese Gase, und der damit verbundene Temperaturanstieg, im Rahmen dessen was vorhersehbar war – wir hatten relativ moderate, und lineare Anstiege der weltweiten Temperaturen. Doch damit ist es seit einiger Zeit vorbei. Die Berechnungen der Klimamodelle werden immer häufiger überschritten – die Temperaturen steigen immer schneller an, Gletscher und Meereis schmelzen früher und schneller als je zuvor gemessen, unsere karibische Wärmepumpe, der Golfstrom, verlangsamt sich, die Winde des ‘Jetstreams’ eiern unkontrolliert über die Nordhalkugel und sorgen für langanhaltende Perioden von festsitzenden Extremereignissen wie Hitzwellen und Dürren. Besonders die momentane Entwicklung in der Arktis sollte uns zu denken geben. Neueste Analysen zeigen das der Permafrost – die eigentlich dauerhaft gefrorene obere Erdschicht des hohen Nordens – so unfassbar schnell auftaut, dass die vorherigen Prognosen der Wissenschaft sich nun als viel zu konservativ herausstellen. Der Permafrost schmilzt im großen Stil, und zwar 70 Jahre (!) früher als angenommen. Die damit verbunden zusätzlichen Emissionen von Methan und Kohlendioxid zerstören gerade die Berechnungsgrundlagen des Pariser Klimaschutzabkommens und des Sonderberichts des UN-Weltklimarats vom Oktober 2018. Alle vorhergesagten Konsequenzen des Klimawandels passieren, aber sie passieren viel früher und viel vehementer als die bisherigen Prognosen es beschrieben. Viele der identifizierten Kipp-Punkte in unserem globalen Klimasystem scheinen schon jetzt ins Wanken zu kommen. Die Zeit für ein drastisches Umdenken in unserem Verhalten, und der Art des Wirtschaftens wird immer, immer knapper. Der jetzige Stand der Dinge deutet an, dass wir gerade noch 5-8 Jahre haben um unsere Emissionen massivst zurückzufahren – und massivst heißt eine Reduzierung der Emissionen um mindestens 10-12% pro Jahr! Das sind die Dimensionen in denen wir denken und handeln müssen – die Zeit für ‘Pillepalle’ und ‘ … da schauen wir mal …’ sind endgültig vorbei!
Was bedeuten diese Trends für uns hier in Soest? Ganz klar, auch wir müssen in dieser neuen Realität ankommen, und uns den Ereignissen und den daraus resultierenden neuen Klimazielen stellen und mit ambitionierten Maßnahmen darauf reagieren. Alle Teile der Gesellschaft und alle politischen Ebenen, von lokal bis auf die Bundesebene, sind hier gleich gefragt. Das bedeutet letztendlich auch, dass die zur Abstimmung kommende Vorlage zur Klimanotstandserklärung kein Dokument mit minimalistischen Zielen sein darf. Im Gegenteil, die Situation in der wir uns alle
befinden erfordert einen Sinneswandel, Mut und auch neues Denken. Auch Sie, als Mitglieder des Rats, brauchen jetzt eine absolute Bereitschaft ehrlich mit sich selbst und der Bevölkerung zu sein. Wir leben heute schon in einem Klimanotstand, und ein “weiter so” wird uns so gut wie garantiert in eine baldige Klimakatastrophe führen!
Ja, wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens der sich durch alle Bestandteile der Gesellschaft zieht. Einen kleinen Einblick in diesen, sich immer weiter entwickelnden, gesellschaftlichen Konsens haben Sie in den letzten Wochen und Tagen bekommen. Die immer größer werdenden Demonstrationen von ‘Fridays-for-Future’ laufen seit Januar (mit freundlicher Unterstützung der ‘Scientists-for-Future’), der ‘Klimatreff’ hat über 100 reguläre Teilnehmer, und die vom lokalen BUND und dem Klimatreff organisierten öffentlichen Präsentationen zum Thema Klima und Klimanotstand hatten mehr als 600 Besucher an nur zwei Abenden. Und dann war da noch die letzte Sitzung des Umweltausschusses vor wenigen Tagen, bei dem wieder
fast 100 Bürger*innen mit ihren Kindern, und mit ihren Bannern friedlich und singend, durch den alt-ehrwürdigen Ratssaal liefen, um die Mitglieder aufzuforden und zu motivieren eine weise, zukunftsorientierte Entscheidung zu fällen.
Und darum geht es auch am kommenden Mittwoch, wenn sie die Wahl haben zwischen einem Minimal-Konsens ohne klare Ziele und Ambitionen oder einer ehrlichen, ambitionierten und wirklich in der Realität verankerten Klimanotstanderklärung!
Die Europawahl im Mai hat klar gezeigt, dass die Bürger*innen absolut keine Lust mehr haben auf politisches ‘Bla-bla-bla’ zum wichtigsten Thema unserer Zeit – dem Klimaschutz! Es war kein Zufall, dass die jungen Menschen, nämlich die die am meisten Zukunft zu verlieren haben, sich am deutlichsten abgewandt haben von den etablierten Parteien. Dieser Trend wird noch stärker werden in den nächsten Monaten und Jahren, es sei den die Politik erkennt die Zeichen der Zeit und fängt an sich verlorenes Vetrauen wieder Stück für Stück zurückzuerobern. Die Abstimmung im Rat am kommenden Mittwoch ist so eine seltene Gelegenheit einen Teil des Verlorenen vielleicht wieder ein Stück zurückzugewinnen. Aber das kann und wird nur dann passieren, wenn sie sich für eine ambiotionierte Herangehensweise entscheiden. Eine Klimanotstandserklärung ohne definierte Ziele, klare Eckpunkte, ehrliche Ambitionen und Mut zur operativen Veränderung wird hier in Soest niemanden zufrieden stellen. Die Kommunalwahl 2020 wird zu einem guten Stück schon am Mittwoch dem 10. Juli 2019 entschieden werden. Sie haben die Entscheidung selber in der Hand. Lassen Sie sich von Wahrheit und Verstand leiten, dann können auch Sie nur gewinnen.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr Udo Engelhardt
‘Klimatreff Soest’ & ‘Scientist-for-Future’
Soest, den 5. Juli 2019